Über den Stellenwert der traditionellen japanischen Medizin. Ein Interview mit dem versierten Japankenner Prof. em. Wolfgang Michel
Ich freue mich sehr, Professor Wolfgang Michel-Zaitsu zum heutigen Gespräch begrüßen zu dürfen. Herr Michel erhielt 1984 als erster Ausländer eine unbefristete Berufung (tenure) an eine staatliche Universität in Japan und war bis zu seiner Emeritierung im Jahre 2010 an der Kyushu-Universität als Professor für Vergleichende Sprach- und Kulturwissenschaften sowie als Dekan und Vizepräsident, und anschließen als Gastprofessor an der Saga-Universität tätig. Von 2008 bis 2021 war er Mitglied im permanenten Exekutivvorstand der Japanischen Gesellschaft für die Geschichte der Medizin. Er hat zahlreiche Arbeiten zur Geschichte der euro-japanischen Kulturkontakte besonders im Bereich Medizin und verwandter Wissenschaften geschrieben. Neben Preisen wissenschaftlicher Gesellschaften erhielt er auch das Bundesverdienstkreuz am Bande. Herr Michel lebt in Fukuoka auf der westjapanischen Insel Kyushu. Sein reich bebildertes Buch ´Traditionelle Medizin in Japan - Von der Frühzeit bis zur Gegenwart´ wurde 2017 vom Kiener-Verlag veröffentlicht.
Der Begriff ´TCM´ ist in aller Munde. Doch dass es auch eine TJM gibt, die Traditionelle Japanische Medizin, ist weniger bekannt? Woran kann das Ihrer Meinung nach liegen?
Das hat meines Erachtens mehrere Ursachen. Bis in die sechziger Jahre des letzten Jahrhunderts kannte und praktizierte nur ein kleiner Kreis westlicher Therapeuten fernöstliche Therapieverfahren wie die Akupunktur und Moxibustion. Das änderte sich schlagartig Anfang der siebziger Jahre, als China sich der Welt öffnete. Das, was man seitdem TCM nennt, entwickelte sich fortan in engem Wechselspiel von westlicher Nachfrage und chinesischer Response. Jedoch, wie in China hatte die traditionelle Medizin auch in Japan und Korea in der Begegnung mit der westlichen Medizin tiefgreifende Wandlungen erlebt. TCM, TJM und – ich nenne es mal TKM[1] – sind Produkte der Moderne, das heißt Wiederentdeckungen, Neuinterpretationen, Weiterentwicklungen älterer Konzepte. Dass man in China von staatlicher Seite aus die Begegnung, den Austausch mit internationalen Interessenten bis hin zu deren Ausbildung gezielt förderte, spielte eine wesentliche Rolle bei der weiträumigen Verbreitung der TCM.
In Japan blieb es hingegen einzelnen Personen und Gruppen überlassen, ihr Wissen in die Welt zu tragen, sofern sie daran Interesse hatten. Dazu kam die in vielen Bereichen noch immer nicht verschwundene Tendenz zur Abgrenzung und Bildung von Schul- oder Stilrichtungen. Sie kennen das sicher aus der Welt der Teezeremonie, des Blumensteckens, der Kampfsportarten usw. Entsprechend zersplittert und für neue Interessenten verwirrend ist das sich darbietende Gesamtbild.
Wie und wann bekam die westliche Welt Zugang zur Medizin in Japan?
Das geschah schon sehr früh. In Nagasaki gab es eine Handelsstation der Niederländischen Ostindienkompanie (VOC). Dort kümmerten sich von etwa der Mitte des 17. bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts europäische Ärzte und Chirurgen um das Wohlergehen der Belegschaft und auf Anfrage auch einflussreicher japanischer Persönlichkeiten. Viele vermittelten ihr Wissen an interessierte japanische Ärzte. Schon bald entstand eine kontinuierliche Beschäftigung mit westlicher Medizin, die das Fundament für die so schnelle Modernisierung des Medizinalwesens nach 1868 legte. Einige dieser Stationsärzte, wie Willem ten Rhijne, Engelbert Kaempfer, Carl Peter Thunberg oder Philipp Franz von Siebold befassten sich während ihres Aufenthaltes im Lande mit der einheimischen Medizin und verfassten hierüber ausführliche Beschreibungen. Diese wurden bis etwa gegen Ende des 18. Jahrhunderts von europäischen Ärzten als den Chinesen und Japanern gemeinsame Medizin rezipiert, sie verschwanden dann aber nach und nach im Bereich folkloristischer Beobachtungen.
Um ein paar Beispiele zu nennen: 1683 publizierte der Internist Dr. Willem ten Rhijne eine lateinische Abhandlung, die erstmals die Nadeltherapie vorstellte. Das von ihm geprägte Wort „acupunctura“ ging in alle westlichen Sprachen ein. Ein 1674 erschienenes niederländisches Büchlein zur Therapie der Fußgicht (Podagra) leitete die Beschäftigung mit der Brenntherapie ein. Besonders in der Leopoldina gab es lebhafte Diskussionen über das wundersame Heilmittel Moxa (japanisch mogusa). 1690 erwarb der Internist Engelbert Kaempfer in Japan hierzu eine illustrierte Anleitung zur Eigentherapie. Den übersetzten Text und die Abbildung fügte er seinem Buch „Amoenitates Exoticae“ (1713) bei. Im selben Buch beschreibt er des Weiteren ein zur Akupunktur benutztes „Führungsröhrchen“, das der japanische Akupunkteur Sugiyama Wa’ichi (1614–1694) erfunden hatte. Ten Rhijne und Kaempfer machten zudem die „Klopfnadelung“ (dashinhō) bekannt. Bei dieser ebenfalls im Japan des 17. Jahrhunderts aufgekommenen Therapie treibt man nach einer elaborierten Bauchdiagnose eine etwas dickere goldene Nadel mit einem kleinen Hämmerchen an bestimmten Punkten im Abdominalbereich flach ein. Die chinesische Meridianlehre spielt in diesem Konzept keinerlei Rolle. Der als Pionier der „Elektropunktur“ bekannte Arzt Jean-Baptiste Sarlandière stellte 1825 einen japanischen Text über eine shiraku genannte Form der Phlebotomie vor. Als Maßeinheit für die abzunehmende Blutmenge galt die Teeschale, während das klassische chinesischen Schrifttum nur von Tropfen spricht. Diese für spezielle Fälle vorgeschlagene Therapie hatte der Ogino Gengai (1737-1806), ein hochrangiger, in der traditionellen Medizin beschlagener Hofarzt des Tenno, durch Kombination westlicher und östlicher Konzepte entwickelt. Doch bis ins frühe 20. Jahrhundert ging man in Europa davon aus, das alles, was man in Japan beobachtete, eigentlich aus China stammte.
Welche Therapieverfahren zählen zur TJM?
Wie ich schon sagte, ist das, was wir heute TJM nennen, kein simpler Abklatsch von Konzepten und Therapien uralter Zeiten, sondern das Resultat einer Wiederentdeckung und Weiterentwicklung im 20. Jahrhundert. Hilfreich war, dass schon in der frühen Neuzeit in Japan unter den Anhängern der chinesisch-japanischen Traditionen eine Richtung aufgekommen war, die der Beobachtung und dem Sammeln von Erfahrung den Vorrang vor der Exegese des chinesischen Schrifttums gab. Eigentlich hatte man die Wiederbelebung einer vermeintlich idealen oder doch zumindest besseren Medizin des Altertums im Sinn, doch war man nunmehr auch offen für Neues. Nach Jahrhunderten der Abhängigkeit von chinesischen Doktrinen emanzipierte man sich rasant. Einige der führenden Köpfe dieser im 18. Jahrhundert aufgekommenen "Schule der alten Rezepte" (kohōha) stellten Theorien auf, die fundamentale Lehrsätze der chinesischen Medizin negierten. Das war von Fall zu Fall auch innerhalb des traditionellen Lagers umstritten, doch in der Praxis wurde ein reicher Schatz an Heilverfahren und -rezepten akkumuliert und pragmatische Beziehung auch zu den Anhängern der westlichen Medizin gepflegt.
Einen weiteren Innovationsschub beobachten wir im frühen 20. Jahrhundert als Reaktion auf die staatlich forcierte Unterdrückung der traditionellen Heilkunde im Zuge der Einführung der modernen westlichen Medizin. Nachdem die Dominanz der westlichen Medizin gesichert war, hatte man Spielraum gewonnen, um die eigene Tradition wieder ins Auge zu fassen. Neue Therapien wurden entwickelt, die überlieferten Heilkräuter und Formeln erforscht, neue Produktionsmethoden und Fertigprodukte entwickelt. Einst pflegte der Arzt im Hause des Patienten seine Dekokte herzustellen, heute gibt es Handelspräparate in Granulatform. Was man seit etwa 140 Jahren Kampō nennt, ist nicht, wie der Name suggeriert, chinesische Medizin, sondern eine Phytotherapie japanischer Prägung. Seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts beobachtet man auch auf Seiten des Staates einen Wandel in der Einstellung. Von den für den allgemeinen Gebrauch zugelassenen 294 Formeln werden heute 148 von der Krankenversicherung übernommen.
Neben der Phytomedizin gibt es eine breite Palette weiterer Heilverfahren. Hier nur einige Stichworte. Natürlich praktiziert man noch immer die chinesische Akupunktur in allerlei Varianten. Dazu kommen die vorhin erwähnte Klopfnadelung, die intradermale Nadelung, Yamamotos Neue Schädelakupunktur (YNSA), nicht-invasive Formen wie Shonishin oder Shonihari, ferner die Ryodoraku Medizin und andere Verfahren mehr. Bei der Moxibustion wurde das vormals direkte Brennen mit beachtlich dicken Kegeln sehr verfeinert, doch überwiegt nach meinem Eindruck inzwischen das indirekte Brennen, für das man eine Vielfalt von Produkten entwickelte. Bei den manuellen Körpertherapien fallen mir besonders das Anma und Shiatsu in einer Reihe von Stilrichtungen sowie die Judo-Therapie ein. Ich selbst gehe monatlich zu einer Therapiesitzung mit der traditionellen, stiftartigen Teishin-Nadel. Bisweilen fließen traditionelle Impulse in Bereiche ein, wo man sie nicht erwartet. Ein hiesiger Zahnarzt gab seine Karriere an der Universität auf, um in seiner Klinik unter Einbindung von Elementen der TJM eine holistische Konzeption von Prophylaxe, Okklusion und Körpergesundheit zu entwickeln. Dass Patienten sogar aus dem fernen Tokyo anreisen, lässt vermuten, dass er etwas gefunden hat, das Wirkungen zeigt.
Wie ist das Verhältnis zwischen "westlicher" Medizin und TJM?
Im heutigen Japan ziemlich entspannt. Kampō-Medikamente werden auch in westlich ausgerichteten Kliniken genutzt. Diesbezügliche Forschungen betreibt man in zahlreichen medizinischen und pharmazeutischen Fakultäten. Neben einschlägigen Berufsfachschulen für Akupunktur, Anma usw. gibt es einige, auf Alternativmedizin ausgerichtete Hochschulen. Die Mehrzahl der dort tätigen Lehrkräfte hat westliche Medizin bis zur Promotion studiert. Gleiches gilt für die Mitglieder der sich nunmehr auch international öffnenden Japanese Society for Oriental Medicine (JSOM).
Was hätte Japan noch anzubieten?
Während der Edo-Zeit gewann die Lebenspflege (yōjō) an Bedeutung. Hierzu leistete der Arzt und Konfuzianer Kaibara Ekiken (1630-1714) mit seinem Buch (yōjōkun) den wohl bedeutsamsten Beitrag. Seine Anweisungen werden in popularisierender Form immer wieder gedruckt. In der Diätetik ist Georges Ohsawas Makrobiotik schon lange international verankert. Buddhistische Tempel weisen mehr und mehr darauf hin, dass die Meditation auch gesundheitsfördernde Seiten hat. In manchen Schulen wie dem Shingon Buddhismus spielt die Natur eine große Rolle. In den letzten Jahren bietet man auf dem Koyasan und anderswo Anleitungen zum "Waldbaden" (shinrinyoku) an. Auf alten Pilgerpfaden durch die Bergregionen der Kii-Halbinsel halten nicht nur die Anhänger des Shugendō an spirituellen Orten auf Bergspitzen, an Wasserfällen usw. inne, um Geist und Körper zur Ruhe zu bringen.
Natürlich gibt es keinerlei Notwendigkeit, alles so zu übernehmen wie es in Japan praktiziert wird. Man sollte es eher so halten, wie es die Japaner seit über tausend Jahren tun: das fremde Wissen studieren, überprüfen, verwerfen, akzeptieren und so anpassen, dass es Teil des eigenen Wissens und Lebens wird.