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Ikigai

Wofür stehe ich jeden Tag mit Begeisterung auf?

~ 14 Minuten
Karin Kalbantner-Wernicke

Heute geht es um das Thema IKIGAI: Wofür stehe ich jeden Tag mit Begeisterung auf? Dazu habe ich mir zwei Gesprächspartner eingeladen. Prof. Wolfgang Michel-Zaitsu aus Fukuoka (Japan) und Hilmar Juckel (Dänemark). Hilmar Juckel beschäftigt sich schon sehr lange mit dem Thema IKIGAI und Prof. Michel gibt uns als Japan-Experte Einblicke aus dem Ursprungsland des IKIGAI.

Was mich immer wieder besonders fasziniert ist, wenn japanische Themen in den Westen kommen und alles Mögliche dazu gepackt wird und dann als original Japanisch vermarktet wird. Dafür ist IKIGAI ein wunderbares Beispiel. Daher freue ich mich riesig euch hier eine fundierte Blickweise vorstellen zu dürfen.

Zuerst das Gespräch mit Hilmar Juckel:

Vielen Dank, dass du dir heute die Zeit für unser Interview nimmst. Doch zunächst möchte ich dich vorstellen: Du arbeitest seit den 1990er Jahren als Unternehmensberater, betreust vor allem Handelsunternehmen in Deutschland, Österreich und der Schweiz und hast vor Kurzem zusammen mit deiner Partnerin Mareke einen Lebenstraum verwirklicht und lebst jetzt in Dänemark an der Ostsee.

Vor vielen Jahren haben wir dich mit unserer Japan-Begeisterung angesteckt. Dann konnten wir dich für den Marketing-Teil im oyakooko-Kurs gewinnen. Und mittlerweile ist IKIGAI dein Spezialgebiet geworden.

Ja, das Buch über IKIGAI, das ihr mir damals geschenkt habt, hat tatsächlich den Funken für IKIGAI und die japanischen Lebensphilosophien bei mir überspringen lassen. Es hat dann noch etwas Zeit gebraucht, um mich tiefer einzuarbeiten. Ich habe weitere Bücher studiert und zusätzlich Kurse belegt um herauszufinden, wie ich privat und beruflich IKIGAI am besten für mich nutzen kann. Mittlerweile weiß ich, dass wir mit IKIGAI unser Leben so viel einfacher und schöner machen können. Deshalb ist es mir wichtig, mit dazu beizutragen, das „wahre“ IKIGAI weiter zu verbreiten.

Du weißt ja auch wie IKIGAI hier im Westen angeboten wird und dass es ursprünglich aus japanischer Sicht anders gedacht war.

Richtig, und das war eigentlich sogar großes Glück. Denn ohne dieses Missverständnis wäre das “wahre“ IKIGAI hier gar nicht so populär geworden. Dass hier im Westen zunächst verbreitete IKIGAI handelte von Langlebigkeit und einem Venndiagramm mit den Fragen „Was liebst du?“, Was kannst du gut?“, Was ist deine Botschaft an die Welt?“ und „Womit kannst du Geld verdienen?“. Man kann mit der Beantwortung dieser vier Fragen seine Berufung finden. Insofern schon sehr hilfreich. Der amerikanische Unternehmensberater  Marc Winn hat dann das aus dem Westen stammende Venndiagramm  in IKIGAI, vorher hieß es Purpose oder Zweck, umbenannt, weil er diesen Begriff in einem Buch von Dan Buettner gelesen hatte, welches u. a. die Ursachen der Langlebigkeit der Einwohner in der japanischen Präfektur in Okinawa untersuchte. Er fand, dass IKIGAI genau das umschrieb, was das Venndiagramm ausmachte. Doch weder Venndiagramm noch Langlebigkeit haben etwas mit IKIGAI zu tun. 

Für die Mutter des IKIGAI, der Japanerin Mieko Kamiya, bedeutet IKIGAI, sich seiner Lebensbedürfnisse bewusst zu werden und zu prüfen, inwieweit diese schon erfüllt sind. Selbstreflektion spielt dabei eine große Rolle. Und Dinge, die man liebt, ohne Ablenkung zu tun, um so oft es geht, IKIGAI-Momente oder Flow zu erleben.

Was ist für dich die Bedeutung von IKIGAI und warum ist es so wichtig sein IKIGAI zu kennen?

 IKIGAI heißt frei übersetzt, „Wofür es sich zu leben lohnt“ oder “Was macht unser Leben lebenswert“? Für mich bedeutet es, nicht zu beklagen, was uns noch zu unserem Glück fehlt,  sondern zu erkennen, wie reich wir schon beschenkt worden sind. Deshalb ist eine der wichtigsten Botschaften des IKIGAI die Fokussierung auf das, was du gerade machst.  Schon die alten Zen-Meister wussten: Wenn ich gehe, gehe ich, wenn ich esse, esse ich usw. Wenn ich jegliche Ablenkung ausschalten kann und tue, was ich liebe, und liebe, was ich tue, entstehen Flow und Glücksgefühle. Wir vergessen dann Raum und Zeit und erkennen bereits im Kleinen, wie schön die Welt ist. 

Wenn wir zum Beispiel abends mit viel Liebe etwas Besonderes gekocht haben, könnten wir uns an dem besonderen Genuss, dem Geschmackserlebis erfreuen. Wenn wir morgens im Wald unsere Joggingrunde drehen, könnten wir uns an der Natur und ihrer üppigen Vegetation satt sehen und die gesunde frische Luft bewusst einatmen. Und wenn wir im Auto über Landstraßen zu unserem Urlaubsort in Frankreich dahingleiten, könnten wir die wundervolle Landschaft genießen, die pittoresken Häuser und die strahlende Sonne.

Doch wir setzen oft andere Prioritäten. Beim Essen besprechen wir schon die To-Do-Liste für den nächsten Tag, beim Joggen hören wir Musik und kontrollieren permanent unseren Puls und bei unserer Reise nach Frankreich ist das Ankommen am Ziel wichtiger als die Reise selbst. 

IKIGAI hilft uns dabei, uns wieder zu erden und in vielen täglichen Lebenssituationen Glücksmomente zu erleben. Deshalb sollten wir anstreben, unser persönliches IKIGAI zu finden. Denn es bereichert uns jeden Tag. Ein Leben lang.

In welchem Rahmen setzt du IKIGAI ein?

Ich versuche, IKIGAI so oft wie möglich zu nutzen, selbst bei weniger geliebten Tätigkeiten wie bspw. der monatlichen Buchhaltung. Ich bereite dann alle Belege und Bankauszüge des Monats vor, schalte mein Mobiltelefon in den Flugmodus und meinen Computer stumm, damit ich nicht durch Hinweistöne gestört werde. An der Bürotür hängt ein Schild „Bitte nicht stören“. Jetzt kann ich sicher sein, dass ich in Ruhe und konzentriert arbeiten kann und starte das Softwareprogramm. Mein IKIGAI erlebe ich, weil ich durch das fokussierte Arbeiten komplett die Außenwelt und die Zeit vergesse und durch die hohe Konzentration auch keine Fehler mache. So entsteht Flow selbst bei Routinetätigkeiten.

Schöner ist es natürlich, IKIGAI in seinem Hobby zu finden. Oder beim Spielen mit dem Nachbarshund. Oder auch nur beim morgendlichen Teetrinken, wenn man es zu einem kleinen Ritual macht. Ich erlebe mein IKIGAI auch, wenn ich bei einer Tasse Kaffee nur wenige Minuten einfach auf die Ostsee schaue und die Farbenvielfalt, die Natur und die Segelschiffe beobachten kann. Entscheidend ist bei all dem nur, dass ich bei diesen Tätigkeiten nicht abgelenkt werde, die Momente genießen und dabei Freude empfinden kann. Und Dankbarkeit für das, was ich schon habe.

Zu IKIGAI gehört auch - und das nehme ich sehr ernst - mein Leben kritisch zu durchleuchten. Heute umgebe ich mich beruflich wie privat nur noch mit Menschen, die zu mir in Resonanz stehen, die mir gut tun und denen ich umgekehrt gut tue.  Ich strebe mehr denn je nach Lebenszufriedenheit und weiß, dass ich diese nur im Inneren finden kann. Und Sinn und Werte haben für mich eine größere Bedeutung bekommen als früher. Und das Wichtigste: Ich sehe meine Zukunft immer positiv. Das ist kein Zweckoptimismus, sondern eine Grundeinstellung, immer an die vielen Chancen und Möglichkeiten zu glauben, die das Leben jedem bietet, wir aber oft auf Anhieb nicht gleich sehen. Auch das ist IKIGAI.

Gibst du dein Wissen über IKIGAI auch weiter?

Mit unserem Webinar „Genki - Der japanische Weg zu Glück, Lebensfreude und Erfolg“, das kurz vor der Veröffentlichung steht, haben wir ja schon gemeinsam den Anfang gemacht. Hier steht ein ganzheitlicher Ansatz im Vordergrund, so dass neben der persönlichen Weiterentwicklung auch Bewegungsübungen berücksichtigt werden, um neben unserem Geist auch unseren Körper fit zu halten. Aber IKIGAI bildet natürlich auch hier einen Schwerpunkt. „Genki“ ist für alle geeignet, die sich für diese Themen interessieren und bereit und offen sind, ihr Denken zu erweitern, um mehr Lebensqualität und Lebenszufriedenheit zu erreichen.

Parallel bereite ich gerade Webinare und Präsenzseminare für Selbständige vor, weil diese aufgrund ihrer großen Verantwortung für Mitarbeiter, Kunden und Umsatz häufig stärker unter Anspannung und Stress stehen und deshalb besonders von IKIGAI und anderen japanischen Lebensphilosophien wie KINTSUGI, SHOGANAI, JI-BUN profitieren können. Dabei werden alle Lebensbereiche und berufliche Situationen abgedeckt. Der Buchautor Dai Nippon Teikoko hat in diesem Zusammenhang übrigens einen bemerkenswerten Hinweis gegeben: „Das Leben ist nicht, was uns passiert, sondern wie wir auf die Ereignisse reagieren“. Und genau darum geht es auch in diesen Seminaren: Wie reagieren wir eigentlich auf Ereignisse wie Jobverlust, Scheidung, Insolvenz usw., die in unser Leben treten? Wie können wir dem vermeintlich Negativem wie einer Krisensituation etwas Positives abgewinnen und uns dadurch weiterentwickeln? Ein wirklich spannendes Thema.

Darf ich fragen, was dein IKIGAI ist?

Mein IKIGAI ist für mich zum Beispiel das abendliche Kochen. Ich überlege zunächst mit Blick in den Kühlschrank, was ich zubereiten könnte, lege alle Lebensmittel und was ich sonst noch brauche auf den Küchentisch und konzentriere mich dann darauf, im Rahmen meiner Möglichkeiten ein gutes Gericht zu zaubern. Japaner streben dabei niemals Perfektion an, weil es die nicht geben kann. IKIGAI bedeutet deshalb auch nur, dass man versucht, etwas beim nächsten Mal noch ein wenig besser zu machen. Versuche ich dann auch. Und in diesen 30 bis 60 Minuten erlebe ich Flow, weil ich natürlich zuvor schon dafür gesorgt habe, dass ich nicht abgelenkt werde und mich total fokussiert auf die Zubereitung konzentrieren kann. 

Ähnlich geht es mir beim Schreiben von Texten oder dem Erstellen von Webinaren. Ich verschaffe mir eine gemütliche Atmosphäre, versorge mich mit ausreichend Tee, eliminiere jede mögliche Störung und kann mich dann mühelos stundenlang auf das Formulieren oder Gestalten von Folien fokussieren, ohne zu merken, wie die Zeit vergeht. Ich erlebe Flow, und ich freue mich über das Ergebnis.

Ich hatte ja schon gesagt, dass IKIGAI auch eine Art Selbstreflektion bedeutet. Was sind eigentlich meine Lebensbedürfnisse? Welche Menschen tun mir gut? Kann ich mich selbstverwirklichen? Was sind meine persönlichen Werte? Nutze ich die Freiheit, die ich habe? Diese Analyse kommt eigentlich an erster Stelle, wenn man sich mit IKIGAI auseinandersetzt. Mir hat die Beschäftigung mit meinen Lebensbedürfnissen sehr geholfen, Klarheit für das zu bekommen, was ich wirklich will. Klarheit für das, „wofür es sich zu leben lohnt“.

Und hier kommen meine Fragen an Prof. Michel-Zaitsu.

Prof. emer. Michel war Dekan an der renommierten Kyushu Universität. Sein Spezialbereich ist die Geschichte der europäisch-japanischen Kulturkontakte mit Schwerpunkt Medizin. Neben zahlreichen Veröffentlichungen hat er das Grundlagenwerk Traditionelle Medizin in Japan – Von der Frühzeit bis zur Gegenwart (München: Kiener, 2017) geschrieben.

IKIGAI ist hier in Europa im Moment sehr populär. Nun würde ich gern wissen, wie das in Japan aussieht. Was verstehen Japaner unter IKIGAI? 

Ich möchte da vorsichtig sein. Denn seit etwa einem halben Jahrhundert haben Deuter:innen und Denker:innen im In- und Ausland den Inhalt von IKIGAI verfeinert, erweitert und in ihren jeweiligen Fachsprachen zu verankern versucht. 

Das Wort selbst ist vergleichsweise alt. Man findet es im historischen Epos Taiheiki (spätes 14. Jh.) und einer Reihe anderer alter Texte.  Als die Jesuiten der Japanmission ihr heute berühmtes Wörterbuch Vocabulario da lingoa de Iapam (1603) kompilierten, nahmen sie eine nach ihrer Beobachtung geläufige Redewendung "Iqigai mo nai fito" auf, die sie als "Homen que não aproueita nada viuendo (= Jemand, der nichts vom Leben hat)" erklärten. Das von renommierten Japanologen zwischen 2009 und 2022 beim Iudicium Verlag herausgegebene monumentale Großes Japanisch-Deutsches Wörterbuch präsentiert eine Reihe moderner Redewendungen, die durchweg im gleichen semantischen Feld beheimatet sind. Zumindest im allgemeinen Gebrauch gibt es keinen fundamentalen Bedeutungswandel.

Wie könnte man IKIGAI am besten übersetzen?

Lebenssinn, Lebensinhalt, Lebensfreude, Lebensglück, Raison d'être. Eine gewisse Plastizität ist solch abstrakten Termini zu eigen und keineswegs auf die japanische Sprache beschränkt.

Ist IKIGAI im japanischen Alltag ein Thema?

Als ich vor 49 Jahren nach Japan kam, war das IKIGAI des Mannes die Arbeit in der Firma und das seiner Frau die Familie. Die Psychiaterin Mieko KAMIYA, die in ihrem bahnbrechenden Buch "Über das ikigai" (Ikigai ni tsuite, 1966) dem bis dato das Denken dominierenden Gemeinnutz das absolut individuelle IKIGAI voranstellte, war ihrer Zeit voraus. Doch im Laufe der achtziger Jahre brachen auch in Japan alte Strukturen auf, und scheinbar ewige Gewissheiten verflüchtigten sich. Auf die Euphorie der "Bubble-Ära" folgte eine für alle spürbare neue Zeit mit verschwindenden Industriezweigen, mit der Auflösung einst stabiler Arbeitsverhältnisse, mit sinkenden Realeinkommen, rasanter Überalterung, Vereinsamung, mit dem Rückzug junger Menschen aus der Gesellschaft (hikikomori) und all der damit einhergehenden Ängste. Selbst wenn man von der beunruhigenden Lage des Landes in Ostasien absieht, ist die Frage nach Lebenssinn, Lebensinhalt, Lebensfreude, Lebensglück, Raison d'être so virulent wie schon lange nicht mehr. Dementsprechend beobachtet man ein wachsendes Interesse in der Psychiatrie, Psychologie, Soziologie, den Religionswissenschaften usw. an dieser Fragestellung und im Umfeld der Fachliteratur eine Vermarktung durch Fernsehen, Presse und Ratgeberliteratur. 

Soweit ich sehe, gibt es mittlerweile auch in westlichen Sprachen eine stattliche Zahl diesbezüglicher Schriften. Dass man auf der Suche nach Lebenssinn und -inhalt einen Blick auch auf das krisengeschüttelte Japan wirft, um sich anregen zu lassen, leuchtet mir durchaus ein. Dass es sich um die Aufdeckung eines spezifisch japanischen Geheimnisses handelt, vermag ich indes nicht zu erkennen. So universell die Fragestellung selbst ist, so vielfältig sind die Antworten, Vorschläge und Anregungen und deren Einbettung im jeweiligen soziokulturellen Umfeld. 

Herzlichen Dank für diese Einblicke an meine beiden Gesprächspartner.