Welche Therapieverfahren zählen zur TJM?
Wie ich schon sagte, ist das, was wir heute TJM nennen, kein simpler Abklatsch von Konzepten und Therapien uralter Zeiten, sondern das Resultat einer Wiederentdeckung und Weiterentwicklung im 20. Jahrhundert. Hilfreich war, dass schon in der frühen Neuzeit in Japan unter den Anhängern der chinesisch-japanischen Traditionen eine Richtung aufgekommen war, die der Beobachtung und dem Sammeln von Erfahrung den Vorrang vor der Exegese des chinesischen Schrifttums gab. Eigentlich hatte man die Wiederbelebung einer vermeintlich idealen oder doch zumindest besseren Medizin des Altertums im Sinn, doch war man nunmehr auch offen für Neues. Nach Jahrhunderten der Abhängigkeit von chinesischen Doktrinen emanzipierte man sich rasant. Einige der führenden Köpfe dieser im 18. Jahrhundert aufgekommenen "Schule der alten Rezepte" (kohōha) stellten Theorien auf, die fundamentale Lehrsätze der chinesischen Medizin negierten. Das war von Fall zu Fall auch innerhalb des traditionellen Lagers umstritten, doch in der Praxis wurde ein reicher Schatz an Heilverfahren und -rezepten akkumuliert und pragmatische Beziehung auch zu den Anhängern der westlichen Medizin gepflegt.
Einen weiteren Innovationsschub beobachten wir im frühen 20. Jahrhundert als Reaktion auf die staatlich forcierte Unterdrückung der traditionellen Heilkunde im Zuge der Einführung der modernen westlichen Medizin. Nachdem die Dominanz der westlichen Medizin gesichert war, hatte man Spielraum gewonnen, um die eigene Tradition wieder ins Auge zu fassen. Neue Therapien wurden entwickelt, die überlieferten Heilkräuter und Formeln erforscht, neue Produktionsmethoden und Fertigprodukte entwickelt. Einst pflegte der Arzt im Hause des Patienten seine Dekokte herzustellen, heute gibt es Handelspräparate in Granulatform. Was man seit etwa 140 Jahren Kampō nennt, ist nicht, wie der Name suggeriert, chinesische Medizin, sondern eine Phytotherapie japanischer Prägung. Seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts beobachtet man auch auf Seiten des Staates einen Wandel in der Einstellung. Von den für den allgemeinen Gebrauch zugelassenen 294 Formeln werden heute 148 von der Krankenversicherung übernommen.
Neben der Phytomedizin gibt es eine breite Palette weiterer Heilverfahren. Hier nur einige Stichworte. Natürlich praktiziert man noch immer die chinesische Akupunktur in allerlei Varianten. Dazu kommen die vorhin erwähnte Klopfnadelung, die intradermale Nadelung, Yamamotos Neue Schädelakupunktur (YNSA), nicht-invasive Formen wie Shonishin oder Shonihari, ferner die Ryodoraku Medizin und andere Verfahren mehr. Bei der Moxibustion wurde das vormals direkte Brennen mit beachtlich dicken Kegeln sehr verfeinert, doch überwiegt nach meinem Eindruck inzwischen das indirekte Brennen, für das man eine Vielfalt von Produkten entwickelte. Bei den manuellen Körpertherapien fallen mir besonders das Anma und Shiatsu in einer Reihe von Stilrichtungen sowie die Judo-Therapie ein. Ich selbst gehe monatlich zu einer Therapiesitzung mit der traditionellen, stiftartigen Teishin-Nadel. Bisweilen fließen traditionelle Impulse in Bereiche ein, wo man sie nicht erwartet. Ein hiesiger Zahnarzt gab seine Karriere an der Universität auf, um in seiner Klinik unter Einbindung von Elementen der TJM eine holistische Konzeption von Prophylaxe, Okklusion und Körpergesundheit zu entwickeln. Dass Patienten sogar aus dem fernen Tokyo anreisen, lässt vermuten, dass er etwas gefunden hat, das Wirkungen zeigt.
Wie ist das Verhältnis zwischen "westlicher" Medizin und TJM?
Im heutigen Japan ziemlich entspannt. Kampō-Medikamente werden auch in westlich ausgerichteten Kliniken genutzt. Diesbezügliche Forschungen betreibt man in zahlreichen medizinischen und pharmazeutischen Fakultäten. Neben einschlägigen Berufsfachschulen für Akupunktur, Anma usw. gibt es einige, auf Alternativmedizin ausgerichtete Hochschulen. Die Mehrzahl der dort tätigen Lehrkräfte hat westliche Medizin bis zur Promotion studiert. Gleiches gilt für die Mitglieder der sich nunmehr auch international öffnenden Japanese Society for Oriental Medicine (JSOM).
Was hätte Japan noch anzubieten?
Während der Edo-Zeit gewann die Lebenspflege (yōjō) an Bedeutung. Hierzu leistete der Arzt und Konfuzianer Kaibara Ekiken (1630-1714) mit seinem Buch (yōjōkun) den wohl bedeutsamsten Beitrag. Seine Anweisungen werden in popularisierender Form immer wieder gedruckt. In der Diätetik ist Georges Ohsawas Makrobiotik schon lange international verankert. Buddhistische Tempel weisen mehr und mehr darauf hin, dass die Meditation auch gesundheitsfördernde Seiten hat. In manchen Schulen wie dem Shingon Buddhismus spielt die Natur eine große Rolle. In den letzten Jahren bietet man auf dem Koyasan und anderswo Anleitungen zum "Waldbaden" (shinrinyoku) an. Auf alten Pilgerpfaden durch die Bergregionen der Kii-Halbinsel halten nicht nur die Anhänger des Shugendō an spirituellen Orten auf Bergspitzen, an Wasserfällen usw. inne, um Geist und Körper zur Ruhe zu bringen.
Natürlich gibt es keinerlei Notwendigkeit, alles so zu übernehmen wie es in Japan praktiziert wird. Man sollte es eher so halten, wie es die Japaner seit über tausend Jahren tun: das fremde Wissen studieren, überprüfen, verwerfen, akzeptieren und so anpassen, dass es Teil des eigenen Wissens und Lebens wird.